Vergänglichkeit - der kleine Tod

 

Ein schlichter Einband. Ein unscheinbares Buch. Ein Titel, der meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein kurzer Auszug. In „Denn alles ist vergänglich“ schreibt Irvin Yalom, amerikanischer Psychoanalytiker und Schriftsteller eine Hommage an Ellie. Ellie, eine dreiundsechzigjährige Frau, die sich mit einer besonderen Bitte an ihn wendet. Eine tödliche Krankheit führt ihr die eigene Vergänglichkeit vor Augen. Sie konsultiert Irv und bittet ihn, dass er sie begleitet, bis sie stirbt.

 

Das hat Irv noch nie jemand gefragt. Wie mutig! Irv Yalom ist einverstanden. Er begleitet Ellie, er erinnert sich an sie zurück. Sie liebt und sie hasst. Sie liebt ihre Entscheidung eine Wegbereiterin fürs Sterben zu sein und sie hasst übertrieben respektvolles Verhalten und übergroße Neugierde, wo sie am liebsten schreien würde: „Schafft euch doch selbst eine tödliche Krankheit an.“

 

Ellie, die, als sie zum ersten Mal erfuhr, dass ihr Krebs gestreut hatte, schrieb:

 

 „Ich sah in den Spiegel und sah ein menschliches Gesicht, verletzlich, lebendig, geliebt, vergänglich. Ich sah direkt in die Augen, die direkt zurücksahen und ich dachte, ach, du armer Liebling.“

 

In einigen Augenblicken mehr von Ellie. Ein wenig Geduld noch.

 

Zuerst gehen wir zusammen ins Theater. Ins Hoftheater nach Pürbach um genau zu sein. Um 19.30h beginnt die Vorstellung.

 

„Stell dir vor. Ich habe mich letzte Woche mit Johannes getroffen.“ „Johannes?“ „Ja, ein alter Schulfreund. Im Gymnasium waren wir unzertrennlich. Hatten uns immer was zu erzählen. Also, ich treffe mich mit Johannes, sitze ihm gegenüber und staune, dass wir uns einfach nichts zu sagen haben. Nichts!? Ich frage mich, wie kann so etwas geschehen?

 

 Sterben Menschen womöglich schon vor ihrem tatsächlichen Tod?“

 

Reihe 3, Sitz 3, das Hoftheater ist rappel voll. Ein überdimensionales Bett füllt die Bühne. Oliver Baier und Ildiko Babos diskutieren gerade lautstark über die Wahrheit, die Vorteile, sie zu verschweigen und die Nachteile, sie zu sagen. In mir hallt immer noch die letzte Szene nach.

 

„Sterben Menschen womöglich schon vor ihrem tatsächlichen Tod?“

 

Seltsam, mir ging eine ähnliche Frage durch den Sinn. Neulich. Beim Betrachten von Fotos. Bei Blick auf die Augen der Menschen. Ist ihr einzigartiges Wesen noch da? Wo ist der Schelm in den Augen, die Unbeschwertheit in den Gesichtszügen?

 

Meine Erinnerung hat manchmal andere Momentaufnahmen abgelichtet. Hat sie anders im Herzen aufbewahrt. Seltsam.

 

Heute ist ein November Tag in seiner ganzen Pracht. Unzählige shades of grey verschleiern mir die Sicht.

 

Nachbars Apfelbaum steht nackt im Garten. Die Sträucher sind kahl. Die Sommerblumen stark zurück geschnitten. Ein trostloser Anblick tut sich vor meinen Augen auf.

 

Die Natur erinnert an die Vergänglichkeit. Die Gartensaison ist vorbei, jedenfalls hier im Waldviertel. Beete sind umgegraben und mit Laub und Mulch bedeckt. Karotten und Rote Rüben lagern im Sand eingelegt im Keller. Ebenso ein Sack Kartoffel und eine Kiste Birnen. Die Reserven. Die Vorräte für den Winter.

 

Ich fühle mich ein wenig wie Puschel das Eichhörnchen. Besonders dann, wenn ich in der warmen Stube sitze und Walnüsse oder Haselnüsse aufknacke, die Kerne von der Schale befreie und das Glas mit den Frühstückscerialien fülle.

 

Die Natur hat sich zurückgezogen. Unter die Erde. Tiere halten Winterschlaf oder verfügen über besondere Überlebensstrategien. Eine Meise landet im Futterhäuschen.

 

David G. Haskell ist Professor für Biologie. Über ein Jahr hat er einen Quadratmeter altgewachsenen Wald immer wieder besucht und bis ins Detail studiert. Ausgerüstet nur mit Objektiv, Lupe und Notizbuch, Zeit und Geduld, richtet der Biologe seinen Blick auf das Allerkleinste: Flechten und Moose, Tierspuren oder einen vorbeihuschenden Salamander, Eiskristalle oder die ersten Frühlingsblüten.

 

„Es war am kältesten Tag in jenem Winter – bei minus zwanzig Grad. Ich wollte spüren, wie die Tiere im Wald die Kälte fühlen. Also zog ich mich nackt aus. Es dauerte keine Minute, bis ich völlig unterkühlt war. Ich hatte meine Hände nicht mehr unter Kontrolle, mein Gehirn signalisierte Panik. Aber die Meisen, diese kleine Vögel überleben. Den Meisen schien die Kälte nichts auszumachen, aber ich, der Mensch, war ohne Hilfsmittel unfähig, auch nur kurze Zeit durchzuhalten.“

 

Von 1. Jänner bis 31. Dezember hat David Haskell immer auf dasselbe Stück Waldboden geschaut. Immer wieder war er verblüfft über die vielen Kreaturen auf diesem Quadratmeter, über den Balanceakt zwischen Kooperation und Konflikt, über dieses Netz aus Beziehungen und über die vielen Geschichten, die die kleinen Lebewesen erzählen. Je länger er hinschaute, hinhörte und hinroch, umso interessanter wurde es.

 

Dabei erkannte er:

 

Je näher wir herangehen, umso mehr erschließt sich uns die Schönheit des Waldes. Auch wenn es in dieser Schönheit viel Kampf, Leid und Tod gibt.

 

Puschel kommt mir wieder in den Sinn. Auf der Fahrt zum Bestattungsunternehmen in Klein Pertholz habe ich vor ein paar Tagen ein Eichhörnchen überfahren. Ein Schatten, der blitzschnell unter das Auto huschte, ein Blick in den Rückspiegel. Gewissheit. „Scheiße. Das war ein Eichhörnchen. Ich habe dem Eichhörnchen den Tod gebracht.“ Entsetzen über die Wahrheit. Ohnmacht. Gefühle überrollen mich. Noch jetzt ziehen sich meine Eingeweide zusammen, wenn ich an die Situation denke.

 

Für uns Menschen ist der Friedhof oder das Krematorium die letzte Station. Für dieses Eichhörnchen war es ein Stück Landstraße.

 

Ich trauerte. Ich trauerte über ein Eichhörnchen den ganzen Weg bis zum Bestattungsunternehmen. Den Tod zu bringen, damit war ich überfordert.

 

„Ich bin noch dabei, mich zu strecken, als mich die Erinnerung an den Tag zuvor wie ein bleiernes Gewicht in den Magen trifft. Ich rolle mich zu einer Kugel zusammen, um mich zu schützen und stöhne über die Heftigkeit des Schmerzes.

 

Alastair ist tot. Alastair ist tot. Alastair ist tot.”

 

Bebhinn ist einunddreißig Jahre alt, als ihr geliebter Mann Alastair plötzlich stirbt. Ein unerkannter Infekt, ein resistentes Bakterium, so etwas kommt vor, heißt es.

 

Als freie und ungebundene dreiundzwanzigjährige verspricht sie sich eines. Falls in ihrem Leben je irgendetwas grundlegend schief gehen sollte, dann würde sie auf den Weg zurückkommen, auf den Jakobsweg. Sie würde sich hierher zurückziehen.

 

Sie tut es, zusammen mit ihren beiden kleinen Söhnen im Buggy. Sie erfüllt Alastair noch einen Wunsch. Den Wunsch, sein Name möge in einem Buch aufscheinen. Das tut er, oft sogar. Sie schreibt „Das letzte Geschenk deiner Liebe“. Gibt Einblick in ihre Gefühlswelt, ihre düsteren Gedanken, ihre Wut. Sie schreibt über Schmerz, über Hoffnungslosigkeit und über Zusammenhalt. Über ihr Leben davor und danach.

 

Der große und der kleine Tod. Der Plötzliche und der Absehbare.

 

Es ist an der Zeit zu Ellie zurückzukehren.

 

„Ich hasse es, meine Situation Menschen erklären zu müssen, die Anfänger in Sachen Sterben sind. Irv nimmt mir meine Befangenheit und hat keine Angst, mit mir die Dunkelheit zu betreten. Ich brauche Menschen, die mir in die Augen sehen können. Das kann Irv gut. Er schaut nicht weg.“

 

Ellie wird durch die Krankheit etwas gegeben und etwas genommen. Irvin Yalom beschreibt es so: „Was gegeben wurde, ist eine neue Perspektive das Leben in seiner Herrlichkeit zu leben und was genommen wurde, sind die Illusion eines grenzenlosen Lebens und der Glaube an eine persönliche Einzigartigkeit, die uns von den Naturgesetzen ausnimmt.“

 

Während eines Retreats auf Hawaii bekommt Irv eine Abschiedmail von Ellie. Es ist soweit. Sie stirbt. Sie bedankt sich. Er klappt den Computer zu, legt seine Arbeit beiseite und schaut aufs Meer hinaus.

 

Erinnerungen an ihre Korrespondenz passieren Revue.

 

„Die Buddhisten raten, mit dem Tod auf der linken Schulter zu leben. Manchmal glaube ich, dass er bei mir auf beiden Schultern sitzt und tatsächlich direkt in meinen Körper gekrochen ist. Wo er natürlich schon immer war.“

 

„Das Leben ist zeitlich begrenzt – immer, für alle. Wir tragen ständig den Tod in unserem Körper.“

 

Ist das ein Teil der universellen Wahrheit? Eine Wahrheit, die Vorteile bringt, sie zu verschweigen und Nachteile, sie zu erzählen? Oliver Baier und Ildiko Babos haben aufgehört zu diskutieren. Bebhinn hat den Jakobsweg wieder verlassen. Irvin Yalom hat Ellie ihren Wunsch erfüllt. Eine Meise pickt einen Sonnenblumenkern aus dem Futterhäuschen heraus. Das Leben geht weiter. Die Kontinuität ist ungebrochen. Die Natur hält sich an ihre Gesetze. Leben und Sterben.

 

Manchmal mag Trost das Mittel erster Wahl sein, manchmal mag es die Würdigung von Sprachlosigkeit, Schock und Leere sein, zumindest solange bis wieder ein kleiner Sonnenstrahl Zugang zum Herzen findet.