„Haube, bitte!“, denke ich und ziehe den Kragen meiner Fleecejacke noch tiefer ins Gesicht. Warum habe ich dieses nützliche Kleidungsstück eigentlich nicht dabei? Weil August ist? Weil laut Kalender Sommer ist? Papperlapapp. Alles Ausreden. Es ist kalt, der Hochnebel liegt über der Mühlviertler Hügellandschaft und der Wind pfeift mir um die Ohren.
„Sonnenschirm, bitte!“, frohlocke ich. Soeben habe ich TShirt und Shorts gegen Bikini und Badetuch getauscht und mich auf den Badeteich neben der Holzmühle gelegt. Hier lässt es sich aushalten, es ist 17 Uhr, die Sonne bringt die Luft zum Flimmern und Vibrieren und ich lasse mich bereitwillig von ihr wärmen.
Dazwischen liegen 2 ½ Tage, 59 Stunden um genau zu sein.
Dazwischen liegen Erinnerungen, Erfahrungen und Erlebnisse.
Die MTB Tour mit Bernd, Stefan, Jürgen und Silvia. Die Erinnerung an Planlosigkeit im Hinterwald, an Abenteuersinn und der wohlverdienten Rast am Lipno Stausee. Die Freude über ein Wellness-Erlebnis auf hohem Niveau. Dampfbad, Massage und Vitalbuffet im SPA Bereich des Hotels. Der erfrischend weiche Geschmack des Quellwassers in Dobra Voda und Hojna Voda beim Radfahren entlang des EuroVelo13 in den Gratzener Urwäldern und ein Lebensmitteleinkauf im Samsuri Hofladen von Ulrike Müller in Lauterbach.
Klingt nach einem vollen Programm. War es auch. Die MTB Tour absolvierte ich auf einem Leihrad. Anfangs noch unsicher, fiel es mir schwer, Tempo zu machen und mit den anderen mitzuhalten. Bernd und Stefan mit E-Bikes ausgestattet, Silvia und Jürgen mit mehr Mut und Kondition als ich. Bei einer steilen Abfahrt auf der Schotterstraße im Hinterwald kehrt eine Erinnerung zurück.
Ich als 16jährige auf der Sommersportwoche am Faaker See. Blass, schüchtern, auf einem Mountainbike sitzend. Neugierig, wie ich war, wollte ich möglichst viel probieren und belegte den Sportmix: Golf, Reiten und Mountainbiken.
Ich habe nie darüber gesprochen, aber ich litt Todesqualen beim Mountainbiken. Mir fehlte die Puste fürs Hinauftreten und der Mut beim Runterfahren. Ich war langsam, ängstlich und fühlte mich allein gelassen. Dabei erwischte mich auch ein böser Sonnenbrand im Gesicht. Meine Nase ist heute noch empfindlich.
Als ich hinter Silvia den Hang runterrolle, ist die Erinnerung da. Ich werde langsamer, bremse, gestehe mir Ängstlichkeit ein und auch meine Langsamkeit.
Es schafft unglaublich viel Vertrauen und Sicherheit, wenn ausreichend Zeit da ist, Dinge im eigenen Tempo leben zu dürfen.
Über 10.400 km verläuft der Iron Curtain Trail, EuroVelo13 quer durch Europa. Ob ich das schaffe?
Meist fahre ich allein, in meinem Tempo, in meinem Rhythmus, mit vielen Pausen zum Verweilen, Staunen, Ausruhen und Entdecken. Langsam, vorsichtig, in kleinen Etappen. Im Juni noch als Idee in meinem Kopf, blicke ich zurück auf 7 Etappen von Gmünd bis Drosendorf, 112 zurückgelegte Kilometer und 3 Etappen von Ceske Velenice bis Cerne Udoli. Da waren es nur noch etwa 10.250 km.
Ich mache gerade Halt in Navary, als eine weitere Erinnerung in mir erwacht. Ich sitze beim Abendessen im AVIVA, Joanna neben mir, wir unterhalten uns.
„Liebst du ihn?“, fragt sie und blickt mich interessiert an. Ich schweige. Bringe keinen Ton über die Lippen. Kann darauf keine Antwort geben. „Macht er dich glücklich?“ Wieder schweige ich. Bilder tauchen vor meinem inneren Auge auf. Eine strahlende Manuela, eine tieftraurige Manuela. Glück. Unglück. Freude. Traurigkeit. Alles so nahe beieinander. Eine verrückte, leidenschaftliche, chaotische Zeit liegt hinter mir.
Wie viele Kilometer ich wohl fahren muss, um ihn hinter mir zu lassen, um mein Herz frei zu machen, um ihn gut zu erinnern, gut zu vergessen? Auch darauf habe ich keine Antwort.
„Ich startete in Tusca an der mexikanischen Grenze. Die Landschaften, die ich hier auf dem Fahrrad für mich erobere sind noch menschenleerer, als ich es mir je vorgestellt habe. Die unendliche Weite überwältigt mich. Manchmal gab es Momente, da ich in der räumlichen Leere die tiefe Einsamkeit des Menschsein empfand.“
Diese Worte entspringen der Erfahrung des Niederländers Auke van der Weide, der in 63 Tagen auf der Great Divine die 4.916 Kilometer von Mexiko nach Kanada mit dem Rad gefahren ist und darüber im Terra Reisemagazin einen Artikel veröffentlicht hat. Ein Vorbild?
Für mich ein Abenteurer, ein Reisender, ein Mensch, der anfangs nur eine Idee hatte. Er wird während seiner Fahrt vom Touristen zum Reisenden, die Tour verlangt ihm viel ab, führt ihm seine befristetet, nomadenhafte Existenz vor Augen.
„Er sehnt sich nach Neuem. Ich bin das Vertraute“, sagt er. Ein stechender Schmerz bohrt sich in mein Herz. Fast vier Jahre lang habe ich meine Liebe auf dem Silbertablett serviert. 4 Jahre.
Die Weite der südböhmischen Hügellandschaft in Ceska Kanada führt mir die Einsamkeit meines Menschseins vor Augen. Ein leerer Platz in meinem Herzen. Eine leere Stelle in meinem Leben. Sprachlosigkeit. Stille. Ein Hauch Nichts.
Mutig stelle ich mich dem Schmerz, den die Wahrheit mit sich bringt. Mein Herz brennt, meine Tränen löschen es. Lange sitze ich da, blicke in die Ferne.
Dann fasse ich neuen Mut, würdige die Kraft, die der Schmerz in sich trägt. Trete wieder in die Pedale, spüre den kühlen Fahrtwind auf meiner Haut. Es ist vorbei. Es geht weiter.
Erinnerungen wehen als sanfte Brise durch mein Gedächtnis.