"Langweilig?“, ich höre förmlich ihren Aufschrei. „Langweilig?“
Wie kann im Moment zu leben langweilig sein?
Es kann. Für jemanden wie mich. Natürlich ist es angenehm. Aber „angenehm“ ist so ähnlich wie das Dahinplätschern von einem Bach oder das Spiel mit der dottergelben Quietschente in der Badewanne.
Es ist ohne jede Herausforderung, ohne jede Spannung.
Ich habe zwar gelernt im „Jetzt“ zu sein, aber das „Jetzt“ war mir langweilig geworden. Aus dem Grund steigen wir auch aus der Badewanne, wenn die Haut schrumpelig wird und das Wasser kalt. Die Zeit darin ist vorbei.“
Durch das geschlossene Fenster hindurch, höre ich das Rauschen des Pürwaldbaches und das metallene Trommeln der Regentropfen in der Dachrinne. Es ist dunkel. Stockdunkel. Keine Straßenlaternen. Keine künstlichen Lichtquellen. Es ist still. Mucksmäuschenstill. Keine Autos. Kein von Menschen gemachter Lärm.
Es ist warm. Es ist trocken. Es ist weich. Ich kuschle mich in die ockergelbe Decke und sinke noch tiefer in den hölzernen Schaukelstuhl. Vorbei am lindgrünen Vorhang, durch die weiß umrandete Glastür hindurch, blicke ich in die schwarze Nacht.
Ich bin zu Gast. Im Mühlviertel. Bei der Familie Pürmayr. Gemütlich. Heimelig. Warm. So habe ich die Räumlichkeiten in Erinnerung und so finde ich sie vor. Vertraut. Wohlig. Beseelt.
Michael Obert, Journalist und Buchautor aus Berlin und Sabrina Fox, Autorin und spirituelle Lehrerin liefern mir geistige Anregungen für meine Zeit in Oberösterreich. Den Artikel „Abenteuer Elbe. Unser letzter wilder Strom und seine Geheimnisse. Per Anhalter von der Quelle zur Mündung.“, trage ich seit Wochen mit mir herum. Das Engelmagazin mit der Coverstory von Sabrina Fox „Freiheit aushalten“ fällt mir in Gertis Ferienwohnung in die Hände.
Sabrina , die sich aus Langeweile vom Jetzt verabschiedet und Michael, den seine Liebe zu Flüssen ins Jetzt schwemmt.
Das Jetzt. Das Sein im Moment. Dieser viel gepriesene sagenumwobene mystische Zustand. So eine Auszeit, so ein Leben im Jetzt, ein Leben ohne Termine und ohne Druck, so ein Leben muss einfach großartig sein. Zwischen Sehnsucht, Glückseligkeit und schwärmerischer Vorfreude, schwankt der Gesichtsausdruck mancher Menschen, wenn es um dieses Thema geht. Dabei kann leicht etwas übersehen werden.
Freiheit will ausgehalten werden.
Sabrina wird während ihrer Auszeit klar, wie sehr ihr inneres Wertegefühl damit zusammenhängt, ob sie sich ihren Lebensunterhalt verdient, ob sie nützlich war, ob sie etwas geleistet hat.
Ich teile das Wissen um die besondere Qualität des Jetzt und ihre Kehrseite mit Sabrina Fox und ich teile die Liebe zum Abenteuer mit Michael Obert.
„Später werde ich meine Aufzeichnung ordnen und feststellen, dass sie auf diesem Reiseabschnitt einfach abreißen. Ich versuche die Lücke aus der Erinnerung zu schließen, finde jedoch nur seltsam verschwommene Bilder vor, als hätte ich alles um mich herum vergessen, alles, was nicht wie ich in Bewegung war.
Es ist, als wäre ich durch ein leeres Land getrieben, in dem die Zeit sich zog und dehnte und es keinen anderen Grund für Bewegung gab, als die Bewegung selbst. Alles, woran ich mich am Ende erinnern werde, ist der rauschartige Zustand meines Dahintreibens auf dem Fluss.
Aufatmen, schaukeln, schaukeln, nichts denken, fahren, schaukeln, immer weiter – dieses Gleiten bin ich.
Seit Jahrmillionen trägt sie Berge ab, spült Erde weg, lässt Wälder wachsen und füllt das Meer. Ich tauche meine Hände ins Wasser und fühle mich der Elbe so nahe wie nie zuvor. Ich kann ihren Puls spüren. Sie lebt.“
Michael war aufgebrochen, um auf der Elbe das Ursprüngliche, Ungezähmte zu finden, und erst als er am Ende seiner Reise in eine Zeltplane gehüllt, in einer Wildnis inmitten des Hamburger Hafens liegt, spürt er, wie etwas in ihm zur Ruhe kommt, ein Rad, das sich unablässig gedreht und ihn immer weitergetrieben hat auf den nächsten Fluss, den nächsten Kontinent.
In seiner Zeltplane. In Deutschland. Nach einer zwanzig Jahre langen Reise lauscht er den Stimmen des Flusses und schaut in die Sterne und da ist es – das Gefühl angekommen zu sein.
Während ich hier sitze und den Schneeflocken dabei zusehe, wie sie leise vom Himmel fallen, eine Tasse grünen Jasmintee in der Hand, habe ich ebenfalls das Gefühl angekommen zu sein. Hier in Österreich.
Die kleine Auszeit, die ich mir gerade gönne, soll mir helfen Abschied zu nehmen, Distanz zu gewinne, loszulassen. Das Jetzt wieder in seiner Kostbarkeit und Vergänglichkeit wahrzunehmen.
Angenommen, nur angenommen, jeder Wintertag sieht so aus wie der heutige Tag. Na hallo! Da wird das Jetzt zum Murmeltier das täglich grüßt. Sabrina klopft mir anerkennend auf die Schultern und Michael winkt mich raus in die Wildnis des Pürwalds. Dabei erinnere ich mich an ein Video der Umweltschutzorganisation Conservation International. Penelope Cruz leiht der Urgewalt des Wassers ihre Stimme.
„I am water. To humans i am simply just there. I am something they take for granted.
I start as rain in the mountains, flow to the rivers and streams an then end in the ocean. Then the circle begins again and it will take me ten thousand years to get back to the state i`m in now.
But to humans I am just water, just there.”
Der Pürwaldbach plätschert munter weiter. Die Elbe bahnt sich unablässig ihren Weg. Das Quietschentchen treibt in der Badewanne. Ich ziehe den Stöpsel. Zeit, aus der Wanne zu steigen. Zeit, mich abzutrocknen. Zeit, weiterzugehen.
Eine Schneeflocke schmilzt auf meiner Nase. Die kühle Luft erfrischt meinen Geist. Meine Füße stapfen durch die Winterlandschaft. Just there. Einfach da. Just human.